Perceived Quality 4.0: Wissen – vernetzt und digital

Neulich habe ich mich mit einem ehemaligen Kollegen über die Zukunft von Perceived Quality unterhalten. Wir waren uns einig, das Perceived Quality gerade heute unheimlich wichtig ist, aber wir waren uns auch einig darüber, dass der Prozess und die Anwendung dringend eine Modellpflege brauchen.

Warum wir denken, dass Perceived Quality heute wichtiger denn je ist

Quelle: polestar.com

Durch den Zuwachs internationaler Automobilhersteller in den letzten Jahren und durch die Elektrifizierung entsteht ein enormer Wettbewerbsdruck. Während die etablierten OEMs versuchen mit dem Tempo mitzuhalten, gehen junge Hersteller neue Wege und schaffen es Kunden zu begeistern. Wie aus dem Kano-Modell (1) bekannt können genau diese Begeisterungsfaktoren kaufentscheidend sein. Aber was begeistert die Kunden heute? Klassisch zielt Perceived Quality auf die Verarbeitungsqualität ab. Aber Themen wie die Nachhaltigkeit des Produkts oder neue technische Features stehen immer mehr im Vordergrund und sind Themen mit denen Werbung gemacht wird. Zum Beispiel wirbt Polestar mit der Nutzung von innovativen Innenmaterialien zur Reduzierung des CO2-Fußabdrucks (2) und sieht dabei extrem hochwertig aus.

Quelle: audi.com

Audi wirbt mit einem hochwertigen Sound für zukünftige Elektroautos, die seit Sommer 2019 in der EU einen künstlichen Außensound haben müssen (3). Diese Dinge wirken anziehend, weil sie neu und spannend sind. Aber sie müssen sich im Alltag bewähren und vom Kunden angenommen werden. Herr Dr. Stylidis an der Chalmers Universität Göteborg beschäftigt sich mit dem Thema Licht im Fahrzeug und dessen Kundenwahrnehmung und hat mit dem Unternehmen CEVT eine Studie dazu veröffentlicht (4). Perceived Quality hat den Anspruch, auf die Details zu achten, um ein hochwertiges Gesamtbild zu ermöglichen. Wenn unerwartete Fehler auftreten, die der Kunde mit seinen Sinnen wahrnehmen kann, wird auch das spannendste Feature nicht mehr begeistern.

Was war noch mal Perceived Quality?

Quelle: car-clinics.de

Als ich mich vor mehr als 20 Jahren das erste Mal mit dem Thema beschäftigt habe, schien Perceived Quality einer der wichtigsten Prozesse in der Automobil-Frühentwicklung zu sein. Es wurde ein unheimlicher Aufwand betrieben, um zu verstehen, was der Endkunde als wertig oder eben nicht wertig empfindet. Hierfür wurden Autos angemietet und diverse Personen mittels eines Fragebogens befragt. Diese sogenannten car clinics kamen übrigens aus der Marktforschung und wurden in vereinfachter Form genutzt, um möglichst schnell und effektiv an Daten zu kommen, die den Perceived Quality Prozess füttern sollten. Währenddessen versuchten Mitarbeiter aus diesem neu gegründeten Fachbereich, die Erkenntnisse aus den car clinics zu nutzen und in laufende Projekte mit einfließen zu lassen. Mit der Zeit wurde Perceived Quality mit Craftsmanship und Design Quality zu einem standardisierten Stützprozess und hat sich in die Prozesslandschaft der Unternehmen eingegliedert.

Quelle: DIN EN ISO 9001:2008

Quelle: Marvin Meyer

Leider ist Perceived Quality von einigen Unternehmen in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Dabei steckt viel Gutes und Wichtiges im Grundgedanken von Perceived Quality. Es geht immerhin darum, die Erwartungen und Wahrnehmung des Kunden aufzunehmen und in die Erkenntnisse daraus in die Produktentwicklung oder Produktverbesserung einfließen zu lassen. Im Kontext der Entwicklung von HMI- und anderen Softwaresystemen, fällt häufig der Begriff „user centric“ oder „user-centered design“ (5). Gemeint ist diesbezüglich das gleiche. Der Kunde bzw. Nutzer soll im Fokus der Entwicklungstätigkeit stehen damit mehr Kundenzufriedenheit erzeugt und damit der Erfolg eines Produkts maximiert wird. Auch in der ISO 9001 steckt ein Grundsatz, welcher sich auf die Kundenorientierung bezieht, also die Kundenanforderungen aufnehmen, in die Produktentwicklung einfließen lassen und anschließend die Kundenzufriedenheit prüfen (6). So ist Perceived Quality auch nur ein weiterer Prozess mit dem Ziel, den Kunden in den Fokus zu rücken? Nicht nur. Immerhin ist das Thema aufgekommen, als man erkannt hat, dass der Endkunde Qualität anders wahrnimmt als der Ingenieur, der über Jahre an dem Produkt gearbeitet hat. Dieses Gap zwischen der Wahrnehmung des Herstellers und des Kunden sollte der Perceived Quality Prozess schließen und sicherstellen, dass die Kundenwahrnehmungen und damit die Kundenanforderungen in den Entwicklungsprozess mit einfließen.

Warum ist der konventionelle Perceived Quality Prozess nicht mehr zeitgemäß?

Wir sind es heute gewohnt, im Internet nach den richtigen Antworten auf unsere Fragen zu suchen. Eine schnelle und einfach zu handhabende Quelle, die jederzeit verfügbar ist. Um im Unternehmen die benötigten Informationen zum Thema Perceived Quality oder die Lösung zu einem Problem zu finden, ist ein größerer Aufwand nötig. Das liegt an verschiedenen Faktoren, die von Unternehmen zu Unternehmen variieren. Ein paar Gemeinsamkeiten gibt es jedoch, die zeigen sollen, warum der PQ Prozess nicht mehr zeitgemäß sind und warum PQ 4.0 eine Lösung darstellen kann. Der typische Prozess, um Kundenmeinungen zur wahrgenommenen Qualität in Fahrzeuginnenräumen zu gewinnen (PQ Benchmark), beinhaltet einen Fragen- bzw. Kriterienkatalog, der je nach Unternehmen ca. 20 bis 1200 Fragestellungen und Bewertungen umfasst. Mehrere Personen bewerten entweder ganze Fahrzeuge oder nur Komponenten nach diesen Kriterien. Oft werden diese Informationen noch mit Papierfragebögen erhoben und anschließend digitalisiert. Dabei gibt es hierfür Tools, mit denen der Proband beliebig viele Fotos und Kommentare direkt in digitaler Form eingeben und in eine Datenbank übertragen kann. Neben dem PQ Benchmark werden auch im Entwicklungsprozess Informationen zum Thema Perceived Quality gesammelt. Hier werden konkrete Probleme bearbeitet und es werden Lösungen gefunden. Diese Informationen und Lösungen wiederum sind nur selten verfügbar – und noch seltener transparent für andere Mitarbeiter.

Quelle: Christina Wocin

Quelle: Sharon McCutcheon

Üblicherweise findet man diese Daten in diversen Microsoft Excel, PowerPoint oder ähnlichen Dokumenten wieder. Eine einfache Suche ist damit fast ausgeschlossen. Teilweise werden auch Guidelines erstellt um „gute“ und „schlechte“ Perceived Quality Beispiele zu dokumentieren, um sie für andere Mitarbeiter Verfügbar zu machen. Guidelines sind eine gute Sache, aber leider auch sehr aufwändig und bedürfen einer kontinuierlichen Aktualisierung. Speicherplatz ist in den letzten Jahren bezahlbar geworden. Dadurch hat das weltweite Datenvolumen extrem zugenommen und wird sich – laut Prognose –bis 2025 verfünffachen (7). Auch im Unternehmen ist dieser Trend zu spüren. Aber leider werden die Daten nicht immer intelligent gespeichert, also auf eine Art, die es erlaubt, gesuchte Informationen schnell wieder zu finden. Dies führt dazu, dass Daten zwar in großer Menge vorhanden aber oft nur schwer zugänglich sind. Zudem muss man sich die Frage stellen, ob all diese Daten bzw. Informationen auch interessant oder relevant für die Produktverbesserung sind. Perceived Quality 4.0 ist zum einen eine Philosophie und zum anderen eine Vielfalt von Methoden. Es ist ein neuer Ansatz, der versucht den PQ Prozess auf den Stand der heutigen Technik zu bringen. Viele Prozesse leiden darunter, im Kern eine gute Idee zu verbergen, aber in der Umsetzung zu scheitern. Hier ein paar Anregungen, die das vermeiden sollen:

Was ist Perceived Quality 4.0?

Neue Technologien
Perceived Quality 4.0 verbindet neue Technologien mit traditionellen Methoden. Zu den neuen Technologien gehören die künstliche Intelligenz, vernetzte und mobile Geräte und Operationen, neue Formen der Zusammenarbeit über Cloud computing, Big Data und neue Anwendungen wie AR/VR.

Intelligentes Wissensmanagement
4.0 lässt vermuten, dass es um die Digitalisierung des PQ Prozesses geht. Aber das Digitalisieren von Daten reicht nicht aus, um Wissen transparent zu machen. Wissen ist bekanntlich die Kombination aus Information und Anwendung. Also reicht es nicht, Informationen zu sammeln und verfügbar zu machen. Wichtig ist die Verarbeitung der Informationen, also die Lösung zu einem Problem oder die Information zu einem Lieferanten, der eine Lösung anbietet. Erst durch diese Information werden die Daten für andere Mitarbeiter interessant und relevant.

Effektivität
Wir erkennen einen Trend, interne Mess- Analyse und Verbesserungsprozesse aufzubrechen und zu verschlanken. So z.B. auch im klassischen Benchmarking. Ganze Fahrzeuge zu zerlegen ist nicht immer nötig. Oft werden nur wenige Daten aus einer Zerlegung sinnvoll genutzt. Im Bereich Perceived Quality bedeutet, dass: a) sich nur auf das wesentliche zu konzentrieren, also nur die Highlights oder Issues aufzunehmen und b) die verfügbare Energie verstärkt in die Auswertung und Verwertung der gesammelten Informationen zu stecken statt in die Sammlung der Daten selbst.

Granulare Datenerfassung
Im Gegensatz zur sequentiellen Erfassung von Daten über Fragebögen oder Formulare gibt es auch den Ansatz der granularen Datenerfassung. Hierbei wird zuerst die Information aufgenommen, die im Vordergrund steht, unstrukturiert und ohne Kontext. Erst im zweiten Schritt erfolgt die Klassifizierung der Daten. Bei der Erfassung von Perceived Quality Highlights oder Issues bedeutet dies, erst die Dinge aufzunehmen, die begeistern oder stark stören. Dann erfolgt die Einreihung in eine Struktur bestehend aus z.B. PQ Attribute (7), Bereiche des Fahrzeug-Interieurs, Komponenten, etc. Bei einer rein granularen Datenerfassung besteht allerdings das Risiko, dass einzelne Bestandteile des Befragungs-Umfangs nicht beachtet werden. Ein Lösungsansatz hierfür kann die Kombination aus Checkliste und offener Sammlung von Highlights und Issues sein. Die Checkliste hilft dem Mitarbeiter auf alle wichtigen Dinge zu achten, ohne auf jeden Punkt näher eingehen zu müssen. Es wird nur eine Stellungnahme nötig, sobald etwas positiv oder negativ auffällt.

Ganzheitlicher Ansatz
Um flexibel auf neue Features oder Themen eingehen zu können, braucht man einen ganzheitlichen Ansatz von Perceived Quality. Einen Ansatz der alle Sinne und kognitiven Fähigkeiten des Menschen in die Beurteilung eines Produkts mit einbezieht. Ein gutes Beispiel für ein solches Grundgerüst ist beschrieben im Artikel: „Perceived quality of products: a framework and attributes ranking method“ (8) von Dr. Stylidis et al der Chalmers University, Göteborg. Hier wird auch anhand eines Beispiels zur Auswertungsmethode „PQ-Air“ der Einsatz von VR beispielhaft verdeutlicht.

Migration von Wissen
Ein leerer Datenpool ist ein schlechter Start für eine Wissensdatenbank. In der Regel bestehen bereits viele Daten im Unternehmen, die auch genutzt werden sollten. Eine Migration von bestehenden Daten in ein neues System ist zwar eine kostspielige Sache, kann sich aber auch schnell amortisieren. Jede dokumentierte Lösung kann für ein anderes Projekt ganze Tage, Wochen oder mehr an Zeitersparnis bedeuten.

Datenbank
Die Idee einer Lessons Learned oder Best Practice Datenbank gibt es schon seit vielen Jahren. Aber eine vernünftige Umsetzung im Unternehmen ist nicht einfach. Oft scheitern die Lösungen an der Aktualität der Informationen oder an der Komplexität, die ein einfaches finden von Informationen und Lösungen ermöglichen sollte. Auch scheitern Lösungen bei der Akzeptanz durch den Nutzer, der Informationen in die Datenbank eingeben soll. Wichtige Faktoren für den Erfolg einer Datenbank sind demnach: • Erreichbarkeit zu jeder Zeit von überall und für alle relevanten Personen • eine einfache und intuitive Eingabe von Informationen, um zu gewährleisten, dass die Datenbank aktuell und damit interessant bleibt • eine umfangreiche Suchfunktion inklusive Volltextsuche, um schnell an die Informationen zu gelangen

Vernetzung
Die Vernetzung von Informationen führt letztendlich zu einer höheren Datendichte. Big Data kann helfen neue Algorithmen zu schaffen, die eine künstliche Intelligenz füttern und somit ein Vorhersehen der wahrgenommenen Qualität ermöglichen könnte.

Quelle: Jesus Kiteque

Fazit

Manche Prozesse brauchen einen kleinen Schubs, um wieder auf die Agenda zu kommen. Perceived Quality ist ein interessanter Prozess, der den Kunden in den Mittelpunkt der Entwicklung rückt. Als privater Nutzer von Produkten, muss ich immer wieder feststellen, dass ich mir mehr Perceived Quality Experten wünsche, die Teil des Entwicklungsteams sind und versuchen die Produktentwicklung in die richtige Richtung zu bewegen. Die Richtung, die dazu führt, dass ich von einem Produkt nachhaltig begeistert sein kann.


1) https://de.wikipedia.org/wiki/Kano-Modell
(2) https://www.polestar.com/de/press/press-release/neue-innovative-loesungen-fuer-den-fahrzeuginnenraum-polestar-setzt-verstaerkt-au
(3) https://www.audi.com/de/experience-audi/mobility-and-trends/e-mobility/sound-of-e-mobility.html
(4) Stylidis, K., Woxlin, A., Siljefalk, L., Heimersson, E., & Söderberg, R. (2020). Understanding light. A study on the perceived quality of car exterior lighting and interior illumination. Procedia CIRP, 93, 1340-1345. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2212827120307010
(5) User-Centered Design, Abras, C., Maloney-Krichmar, D., Preece, J. (2004) User-Centered Design. In Bainbridge, W. Encyclopedia of Human-Computer Interaction. Thousand Oaks: Sage Publications.
(6) DIN ISO 9001, process model
(7) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/267974/umfrage/prognose-zum-weltweit-generierten-datenvolumen/
(8) Stylidis, K., Wickman, C., & Söderberg, R. (2020). Perceived quality of products: a framework and attributes ranking method. Journal of Engineering Design, 31(1), 37-67. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09544828.2019.1669769